„Jihad Baby“ oder warum alles Rhabarber ist
von Alice Brücher
Von Lea Ihrig, Vivien Kaiser, Nick De Nuccio (alle SchülerInnen FES, Q1);
Betreuung und Überarbeitung Martina Becker (Lehrerin an der FES)
Erwachsenwerden ist nicht immer einfach. Mit Konventionen zu brechen, neue, noch unbekannte Dinge ausprobieren gehört in dieser Phase dazu. Was aber, wenn das Neue einen fesselt, wenn es zu radikal wird, wenn es nicht zu anderen Zielen passt?
Diese Frage wirft das von Daniel Ratthei verfasste Bühnenwerk Jihad Baby auf. Das bereits 2017 in Coburg uraufgeführte Stück begeisterte bereits weite Teile Deutschlands. Nun war es am 25. September 2019 in einem Gastspiel von Just (Junges Staatstheater Wiesbaden) – gefördert durch FLUX – an der Friedrich Ebert Schule in Pfungstadt. Und auch dort stieß das Stück und sein Thema, aber auch die Inszenierung als Ein-Personen-Stück auf große Begeisterung und Bewunderung bei den knapp einhundert zuschauenden SchülerInnen verschiedener Jahr-gangsstufen.
Verwunderlich scheint das aber nicht, da die Zuschauer sich in einer ähnlichen Lebensphase wie die Hauptfigur Jona befinden: Er ist 16, deutsch, hat Probleme mit dem Erwachsenwerden und erst recht mit Erwachsenen – seinen Eltern, seinen Lehrern – die ihn nicht verstehen, die er aber auch abstoßend findet. Es scheint darum kein Wunder zu sein, dass er Halt im islamischen Glauben sucht und denkt diesen Halt dort gefunden zu haben. An Jona wird sehr deutlich gezeigt, was vielen deutschen, europäischen Jugendlichen, die ursprünglich eine christliche oder atheistische, eine welt- und wertoffene Erziehung genossen haben, geschehen ist. Auch wenn Jona nicht spürt wie sehr er sich in den neuen Glauben blind hineinsteigert, konvertiert und bereit ist „die Urlaubsreise“ (die Ausreise zum Kampf für den IS) anzutreten, merkt er doch, dass Allah ihn auf die Probe stellt, dass er in seinem Inneren zerrissen ist, denn da ist Jenny. Jenny, deren Leben er mit einem Glas Rhabarbersaft rettet, in die er sich sehnsüchtig verliebt und der er gern auch seinen Glauben aufzuzwingen versucht, um auch sie aus der schmutzigen Welt der Drogen zu befreien.
Begeistert und bewegt hat das Gastspiel aber nicht nur durch seinen Inhalt und durch die Wandlung des Stücks. Die schauspielerische Leistung von Tom Gerngroß, der die Geschichte des Monologstücks in erster Linie als Jona und aus dessen Perspektive erzählt, hat die 15- bis 18-jährigen Zuschauer beeindruckt. In dem Monologstück spielt der für das Junge Staatstheater Wiesbaden arbeitende Schauspieler nicht nur Jona sondern auch seinen muslimischen Freund Musa und Jennys Vater, der gleichzeitig Jonas Lehrer ist. Dabei waren die Schüler*innen sowohl vom flexiblen und raschen Rollenwechsel des Schauspielers als auch von der Tatsache beeindruckt, dass Gerngroß die Dialoge der Figuren und den erzählenden Monolog des Stücks ohne Pause durchspielte.
Neben dieser weitgehend monologischen Darstellung erfrischten Videosequenzen das Stück und machten den Schülern deutlich, wie Schauspiel auch mit modernen Mitteln aufgepeppt werden kann. So begab sich das Stück in Richtung realer Überzeugungsarbeit via sozialer Netzwerke, wenn Jona sich Videos von und mit dem – hier gespielten – Prediger Claude Pirole ansah oder mit diesem in sozialen Netzwerken Kontakt aufnahm, um zum Beispiel auf diesem Weg heimlich zu konvertieren.
Jonas Schicksal allerdings ließ die Regisseurin Sophie Pompe am Ende offen – war Jona jetzt tot oder kommt er zurück aus seiner muslimischen Welt. Schließlich hatten die Schüler*innen gemeinsam die Möglichkeit über diese und andere Frage nachzudenken. Tom Gerngroß und seine Kollegin, die Theaterpädagogin Luisa Schumacher, stellten sich den Fragen der Schüler und gaben Anregungen zur Reflektion. Dabei ging es nicht nur um die Inszenierung und das Thema selbst, sondern auch um Tipps und Tricks der Schauspielkunst, die für die Schüler*innen der Kurse Darstellendes Spiel, welche die Friedrich Ebert Schule Pfungstadt in der Oberstufe anbietet, durchaus auch von Bedeutung sein werden, wenn sie selbst ihr Stück inszenieren müssen. Fragen wie: „Wie lernen Sie ihren Text?“ und „Wie kann man gut in seiner Rolle bleiben, ohne zu lachen?“ fielen und brachten unser eigenes Verständnis von Theater auf ein neues Level. Inhaltlich erkannten die Schüler natürlich auch Jonas schizophrene Lage zwischen dem muslimischen Glauben, der Reinheit und Abstinenz von ihm forderte, und der Liebe zu Jenny, die er küssen und berühren wollte. Schließlich waren die Zuschauer so begeistert, dass sie das Stück nur weiterempfehlen können – es ist ernst, es ist witzig, es spricht die Sprache der Jugend und berührt ihre Seele, aber sie meinen auch, dass man dann versteht, warum im Endeffekt alles Rhabarber ist.